Stilproben

 

 
 

 

Ganz unvermittelt ist die Krise da. Gerade eben noch war die Station ruhig. Doch plötzlich steht eine Patientin in der Glastür zum Garten und redet ohne Punkt und Komma. Das Arztgespräch kurz zuvor hat sie völlig aus der Balance gebracht. Hübsch ist sie, schlank und gepflegt. Sie wirft mit juristischen und medizinischen Fachausdrücken um sich, in rasender Geschwindigkeit springt sie von einem Thema zum nächsten.
Gedankenflucht nennen es die Fachleute. Sie habe Wort-Diarrhoe, sagt sie selbst. Hinter all´ den rasenden Gedanken ist ihre Not zu spüren. Eine Not, die sie hilflos macht. Es scheint, als wolle sie sich festhalten an dieser Flut von Sätzen, die ihr ungeordnet aus dem Mund purzeln. Zur flirrenden Hitze des Tages gesellen sich ebenso flirrende Gedanken. Sie ist nicht zu beruhigen.
Nichts  Neues im Städtischen Klinikum Reinkenheide in Bremerhaven. Wir befinden uns auf einer der vier  psychiatrischen Stationen des Krankenhauses. Der Gebäudetrakt ist neu, wurde erst vor kurzem bezogen. Viel Glas, viel helles Holz, viel Licht. Die Zimmer der Patienten gruppieren sich um einen großzügigen Innenbereich mit Esstischen, auf denen Namensschilder stehen. Damit sich jene kennen lernen, die nun auf Wochen, womöglich auch Monate, miteinander leben und auskommen müssen.
Die helle Küche lässt  - nach drei Seiten voll verglast - die umgebende Natur herein.  Patienten kochen gemeinsam auf dieser Station – wie auch sonst vieles anders ist als in anderen psychiatrischen Kliniken. Denn das neu geschaffene Umfeld spiegelt den inneren Wandel wider – ein unendlich langsamer Wandel, bislang in Deutschland noch ein Tropfen auf den heißen Stein.
Doch die Fachwelt merkt auf. Was in Reinkenheide seit drei Jahren erfolgreich praktiziert wird, erobert mittlerweile deutschlandweit die Stationen von psychiatrischen Krankenhäusern, sozialpsychiatrischen Diensten und Betreuungseinrichtungen.
Was ist anders in Reinkenheide? Die höchst erregte Patientin an der Tür zum Garten stürzt auf Jutta Ahrens zu, sobald sie ihrer ansichtig wird. Wie ein Sturzbach ergießt sich der Ärger über einen behandelnden Arzt auf die Klinikmitarbeiterin. Jutta Ahrens bleibt ruhig. Sie kennt Krisen und weiß mit ihnen umzugehen. Behutsam lenkt sie die Patientin in den Garten auf eine überdachte Ruhebank.
Sie zündet sich eine Zigarette an und hört einfach nur zu. Da ist Anteilnahme, da ist Zuwendung, da ist Verständnis. In wenigen Sätzen zeigt sich ein spürbar vertrauter Ton zwischen Patientin und Helferin. Zwischendurch organisiert Ahrens im Schwesternzimmer ein Beruhigungsmittel, einen dickflüssigen milchigen Saft, den die unruhige Patientin bereitwillig trinkt. Auch sie weiß: sie muss zur Ruhe kommen. Nach einer nervenzerreißenden halben Stunde flaut ihre Erregung langsam ab.
Jutta Ahrens wirft ihr wissende, leicht amüsierte Blicke zu.
Psychiatrische Krisen kennt sie aus eigenem Erleben. Auch sie ist psychisch erkrankt. Eine „Psychiatrieerfahrene“, wie es heißt. Ihre Erfahrung, ihre eigenen schweren Krisen, verschaffen ihr einen ganz besonderen Blick für die Leiden akut Erkrankter, sie hat als Betroffene das Vertrauen der Patienten.
Sie kennt die Mauern, die sich im Klinikalltag auftun für Patienten in akuter Not. Eingebunden  in ein enges Korsett aus täglicher Routine und bürokratischen Pflichten, bleibt dem Fachpersonal kaum Raum für ausreichende zwischenmenschliche Zuwendung. Manch´ ein Patient bleibt – aus Zeitnot - in seiner überschießenden Erregung und unerträglichen inneren Unruhe allein gelassen, andere werden oft sehr, sehr leise. Sie verschwinden in ihrer inneren Einsamkeit. Bei den Erregten werden Fixierungen nötig, oder die Dosis der Medikamente steigt. Das ist der graue Alltag der deutschen Psychiatrie.
Und genau hier setzt eine Idee an, die nach und nach psychiatrische Kliniken in Deutschland, sozialpsychiatrische Stationen und andere psychiatrische Einrichtungen erobert.
Diese Idee selbst ist nicht neu. Schon 1793 schrieb Jean Baptiste Pussin, Leiter des Hopital Bicetre in Paris über die psychisch Erkrankten an seinen Chefarzt Philippe Pinel: „Sie sind auf jeden Fall besser geeignet, diese anspruchsvolle Arbeit auszuüben, denn sie sind üblicherweise behutsamer, ehrlicher und menschlicher“. Man möge soviel Kranke wie möglich als Bedienstete rekrutieren, schrieb er. Kein Wunder – auch er litt an einer psychischen Erkrankung.
Wie schon in der Geschichte psychisch Erkrankte immer wieder auch als Helfer eingesetzt wurden, haben Wissenschaftler der Yale University of Medicine 2012 ausgegraben. Wie diese Idee in Wellen immer wieder die Psychiatrie erreichte und auch wieder verschwand. Zuletzt 1920.
Bis sie seit Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts – überwiegend in den angloamerikanischen Ländern -  immer mehr Fuß fasste und zu einer breiten Bewegung wurde. Peer support nennt sich das, und die Wissenschaftler schätzen, dass allein in Amerika über zehntausend peers eingesetzt sind. Menschen also, die mit dem Hintergrund ihrer eigenen psychiatrischen Erfahrung anderen, akut Erkrankten, helfen.
Der Siegeszug der pharmakologischen Psychiatrie begann etwa in den 50er Jahren, und Medikamente zogen in großem Stil ein in die Kliniken. Neuroleptika, Antidepressiva, Tranquilizer: immer differenziertere Medikamente für die unterschiedlichsten Krankheitsbilder. Sie helfen Leid lindern und können Leid auslösen: denn die Nebenwirkungen sind oft gravierend.
Die Pharmaindustrie hat in der Behandlung psychischer Erkrankungen überhand genommen. Das jedenfalls meint Jörg Utschakowski, der ganz andere Wünsche an die Zukunft hat. Sein Ziel heißt Ex-In : experienced involvement. Also die Einbeziehung psychisch Erfahrener in den Genesungsprozess akut Erkrankter. Utschakowski fordert nichts anderes als einen Paradigmenwechsel in der modernen Psychiatrie.
Sein Bremer Institut F.O.K.U.S  verbreitet die Ausbildung psychisch Erkrankter zu so genannten „Genesungsbegleitern“ quasi im Schneeballsystem. Nach einjähriger Ausbildung können sich Genesungsbegleiter fortbilden zu Trainern und ihrerseits Kurse halten. So dehnt sich Ex-In nach und nach in der gesamten Bundesrepublik aus und hat mittlerweile auch in der Schweiz Wurzeln geschlagen.
In Basel wird an der dortigen Universität Experienced Involvement gelehrt, sowohl für Betroffene als auch für Hochschulabsolventen, die sich weiterbilden wollen. Wie auch die Fortbildung in Deutschland eine wichtige Rolle spielt: die Erfahrung psychisch Erkrankter soll Professionellen vermittelt werden. Eine andere Kultur soll in die moderne Psychiatrie einziehen. Lehrbuchwissen soll ergänzt werden durch mehrdimensionale Behandlungsansätze.
Keine festen Vorgaben nach S3-Leitlinien mehr, wünscht sich Gisbert Eikmeier, Chefarzt der Psychiatrie in Bremerhaven. Die Behandlung von Schizophrenen, Depressiven oder Manikern soll nicht nach einem starren Punkteschema erfolgen, wie es in der Universität gelehrt wird. Nötig sei ein ganz anderes Krankheitsverständnis.
Angelika Lacroix, Pflegedienstleiterin in Bremerhaven, sagt:  erst jetzt ist das Rad rund. Seit drei Jahren beschäftigt das Klinikum sechs Genesungsbegleiter mit jeweils zwanzig- oder dreißig Wochenstunden. Mit gutem Gehalt, von dem andere Genesungsbegleiter nur träumen können. Ihre Genesungsbegleiter hätten die Stimmung auf den vier psychiatrischen Stationen völlig verändert, sagt die quirlige 58jährige.   
Da ist der bodenständige Werftarbeiter mit früherem Alkoholproblem, die Textilfacharbeiterin, die lange Jahre in schweren Depressionen versank, die 28jährige mit langer Psychiatrieerfahrung, der ehemalige Philosophiestudent mit tiefgründigem Wesen: eine bunt gemischte Truppe, selbstbewusst und gelegentlich durchaus aufmüpfig. Denn sie bringen Eigenwilligkeit mit, sagt Angelika Lacroix und ergänzt: „...Eigenwilligkeit, die ich mir auch wünsche“.
Denn Vorurteile lassen sich die sechs Genesungsbegleiter in Reinkenheide nicht gefallen. Sie kennen ihren Stellenwert im Krankenhaus. Ein Augenarzt werde ja auch nicht deswegen gemieden, weil er eine Brille trage, sagt die eine. Und was die Fehlzeiten betrifft: sie unterscheiden sich nicht von denen der übrigen Mitarbeiter.
Neueste Studien weltweit bestätigen aber, dass es gehöriger Anstrengungen bedarf, die peers in den Arbeitsprozess einzugliedern. Nicht überall ist das Entgegenkommen so groß wie in Bremerhaven, wo die Pflegedienstleiterin und die beiden leitenden Ärzte zutiefst überzeugt sind von dem neuen Konzept.
Vorurteile und Abwehr der Professionellen lassen sich nicht so leicht ausräumen. „Muss ich denn jetzt auch zum Säufer werden?“, brummte etwa ein Klinikmitarbeiter in Reinkenheide, auf die „Qualifikation“ seines künftigen Mitarbeiters anspielend. Mittlerweile ist es gerade er, der überaus vertrauensvoll mit dem Genesungsbegleiter zusammenarbeitet.
Auch den bisherigen Forschungsergebnissen ist zu entnehmen, wie viele Hürden im Alltag der Peers auftauchen können: in einer 2013 veröffentlichten Metastudie stellten Gill Walker und Wendy Bryant im Psychiatric Rehabilitation Journal bei der Auswertung von 27 Untersuchungen aus dem angloamerikanischen Raum fest, wo die Probleme liegen: etwa Diskriminierung, schlechte Bezahlung, eine geringe Stundenzahl und die Schwierigkeit, sich in der neuen Rolle als Mitarbeiter zurecht zu finden. Fast die Hälfte der untersuchten Studien aus den vergangenen zwei Jahrzehnten wiesen kritisch auf die niedrige Bezahlung und die geringe Stundenzahl der Beschäftigungsverhältnisse hin.
Auch in München beginnen in diesen Wochen die ersten voll ausgebildeten Genesungsbegleiter zu arbeiten. Schon während ihrer Ausbildungszeit konnten sie erste Erfahrungen sammeln, haben – etwa im Klinikum München Ost – Gruppen geleitet und Patienten begleitet. Die Erfahrungen seien „durchwegs gut“ gewesen, betont Gabriele Schleuning, Chefärztin des Süd West Klinikums. 40 000 Euro hat der Bezirk Oberbayern nun bereit gestellt, um in einem zweijährigen Modellprojekt sechs Stellen auf 400,- Euro-Basis zu finanzieren. Umgelegt sind das zwei halbe Tage pro Woche für jeden Genesungsbegleiter.
Die Metastudie von Walker und Bryant zählt aber auch die vielen positiven Aspekte von Peer-Arbeit auf: da ist das bessere Wohlbefinden der Peers, da sind aber auch die zahlreichen Effekte für die akut Erkrankten. So bestätigte etwa auch eine Literaturauswertung von Julie Repper & Tim Carter (University of Nottingham),  2011 veröffentlicht im Journal of Mental Health, bei einer Durchsicht von sieben Studien, wie sehr Psychiatrieerfahrene helfen können. Immerhin in fünf der Studien wurden signifikant weniger Krankenhausaufenthalte der Betreuten festgestellt, und falls doch, mit kürzerer Aufenthaltsdauer. Die Begleitung und Betreuung durch Peers, sagen die Forscher aus Yale, stifte darüber hinaus Hoffnung und erhöhe die Lebenszufriedenheit der seelisch Kranken.
In Deutschland gibt es erst wenige hundert Genesungsbegleiter. Bundesweit finden aktuell rund zwanzig Seminare statt, in denen weitere Psychiatrieerfahrene zu Genesungsbegleitern ausgebildet werden. Es wird noch Jahre dauern, bis sie in jeder Klinik, Reha-Einrichtung, im Betreuten Wohnen, Tagesstätten und anderen Tagesstätten zum „nationalen Standard“ gehören, wie Jörg Utschakowski es sich wünscht.
Oder, wie ein psychisch Erfahrener mit spitzbübischem Lächeln über seine Leidensgenossen sagt: „Vor zwei Wochen lagen sie noch in den Betten – und jetzt wollen sie mitreden“. Eine kleine Revolution.

DANIELA DIETRICH