Stilproben

 

 
 

 

 

Tiefer Schock und große Erleichterung in Ansbach: ebenso wie Erfurt und Winnenden ist die mittelfränkische Regierungshauptstadt gestern Schauplatz eines Amoklaufes geworden, bei dem - mit dem Täter - insgesamt zehn Personen verletzt wurden. Ähnlich wie Winnenden ist auch Ansbach eine verträumte Mittelstadt ohne große soziale Brennpunkte. Eine Beamtenstadt mit ein wenig Kultur und ansonsten Mittelmaß. Gestern morgen schlug die Nachricht wie eine Bombe ein: Amoklauf an einem der drei weiterführenden Schulen, dem Gymnasium Carolinum. Dem zweitältesten Gymnasium Bayerns und dem renommiertesten der Stadt.

Wer etwas auf sich hält im Städchen, der schickt seine Kinder dorthin. Der humanistischen Bildung wegen, und wegen seiner vielen musischen Angebote.Und doch fand ausgerechnet in diesem Gymnasium der Amoklauf eines 18jährigen Schülers statt. Dem Absolvent der letzten, der 13. Jahrgangsstufe, zwei Tage nach Schuljahresbeginn. Mit einer Axt stürmte er um 8.35 Uhr das altehrwürdige Gebäude aus dem 16.  Jahrhundert unmittelbar im Herzen der Stadt,  hieb auf die Tür einer zehnten Jahrgangsstufe ein und warf zwei Brandsätze in das Zimmer. Dabei verletzte er zwei Mädchen schwer, eines durch Hiebe mit der Axt, das andere durch einen Brandsatz. Insgesamt sieben weitere Schüler mussten ärztlich behandelt werden, befinden sich aber mittlerweile in der Obhut ihrer Eltern.

Anschließend versuchte der Täter vergebens in das Nebenzimmer einzudringen. Die Klassenlehrerin hatte geistesgegenwärtig die Tür abgeriegelt. Mangels Sprechanlage löste die Schulleitung Feueralarm aus und verhinderte so Panik unter den Schülern. Gelassen versammelten sie sich vor der Schule, der Schock traf sie erst hinterher. Und seither ist in dem verschlafenen Städtchen nichts mehr, wie es mal war.

Vormittags erlebte man weinende Kinder im nahegelegenen Arbeitsamt und Eltern, die voller Panik und tränenüberströmt zu ihren Kindern wollen. Durch die regelmäßige Berichterstattung des lokalen Senders war man schnell auf die Tat aufmerksam geworden. Seelsorger, Polizei, Krankenautos: das Unbegreifliche der Amoktat dringt erst langsam in das Bewusstsein der Ansbacher. Plötzlich im Mittelpunkt der Nachrichtenberichterstattung zu sein - das wünscht sich keiner seiner Mitbürger..

Auf der Straße sammeln sich mittags Gruppen von Schülern, die nach stundenlangem Warten nach Hause geschickt worden waren. Unter ihnen Bernd B. (Name geändert). Unendlich gefasst wirkt der 17jährige, als er erzählt, die Brandbombe sei in seine bisherige Klasse geworfen worden. Es seien seine Klassenkameraden, seine Freunde, die unter den Verletzten sind. Mitschüler, mit denen er bis jetzt die Schulbank gedrückt hat. Wäre er nicht "durchgefallen", hätte es ihn auch getroffen.

Doch der Schock ist ihm anzumerken. Leichenblass, mit geweiteten Augen, spult er mit ruhiger Stimme das ab, was er weiß. Doch man spürt: die Angst sitzt ihm im Nacken, nicht zu wissen, wer seiner Freunde unter den Verletzten oder gar Schwerverletzten ist. Ein anderer hingegen weiß, dass sein bester Freund schwer verletzt wurde. Der 17jährige war mit brennendem Oberkörper ohne T-shirt ins Freie gerannt. Auch dieser junge Mann wirkt gefasst - zu gefasst.

Andere lassen ihren Emotionen freien Lauf. Der stämmige Vater etwa, mit zwei kleinen Kindern an der Hand kann die Tränen kaum zurückhalten, als er in die Kameras spricht. Die Schülerin, die erzählt, ihre Schule sei doch "wie eine große Familie". Nie und nimmer habe man gedacht, dass solche Dinge gerade hier geschehen könnten.
Ein Vater ist froh, dass seine jüngere Tochter gerade auf Klassenreise in Griechenland ist. Seine ältere Tochter war Schulsprecherin, hat das Gymnasium bereits verlassen und hält sich gerade in Ghana auf. Er sei erleichtert, sagt der Vater, besser, sie ist in Ghana.

Vom 18jährigen Täter weiß man noch nicht viel. Er war wohl mit einer Axt, mit Messern und mit Brandbeschleunigern bewaffnet in das Schulgebäude eingedrungen. Ein Schüler hatte sofort, nachdem der Brandsatz geworfen wurde, die Polizei verständigt und dann - als Jung-Feuerwehrmann ausgebildet - umgehend den Brand gelöscht. Die Polizei aus der nahegelegenen Einsatzzentrale war sofort am Ort des Schuldramas. Da er mit Messern auf die Einsatzkräfte losging, wurde er mit mehreren Schüssen niedergestreckt. Dies teilte am Nachmittag auf einer Pressekonferenz der bayerische Innenminister mit, der noch am Mittag am Tatort eingetroffen war.

"Er ist eigentlich sehr nett", meinte eine Schülerin, "ein bisschen ein Einzelgänger, aber er hat auch seine Freunde". Insofern gibt es über das Motiv seiner Tat immer noch keine Erkenntnisse.

In der Stadt gibt es zwar Katastrophen-Einsatzpläne, speziell für Amokläufe wurden die Einsatzkräfte jedoch nicht ausgebildet. Auch sonst rechnete wohl niemand in der beschaulichen Beamtenstadt mit einer solchen Tat. Zwar waren Psychologen des nahegelegenen Krankenhauses, Seelsorger und andere Fachkräfte den ganzen Tag über vor Ort, die Schüler hatte man jedoch bereits mittags nach Hause geschickt mit der Auflage, sich notfalls an Therapeuten zu wenden. Dass ausgerechnet das schmucke Städtchen jemals in einem Atemzug mit Erfurt und Winnenden genannt werden würde - damit hatte keiner gerechnet.

 

DANIELA EGETEMAYER