Stilproben

 

 
 

 

Auch in Thüringen wird nun, wie in zahlreichen anderen Bundesländern, in Kürze ein Verein gegründet.  Ab Ende des Jahres soll ein einjähriger Kurs für jene sogenannten „Psychiatrie-Erfahrenen“ angeboten werden, der sie dann als Genesungsbegleiter zur festen Mitarbeit in Kliniken und sozialen Einrichtungen befähigt.

Für Dirk Bennewitz vom Trägerwerk Soziale Dienste in Thüringen ist diese Idee nicht neu. Schon seit einiger Zeit  beschäftigt er drei  psychisch Erkrankte auf Honorarbasis. Mit gemischten Erfahrungen: „Ich habe viel Nerven gelassen“, gesteht er. Denn vieles, was im normalen Psychiatriealltag in geordneten Bahnen erschien, wurde nun plötzlich hinterfragt.

In den fünf Einrichtungen des Trägerwerkes – drei in Erfurt und eine jeweils in Weimar und Apolda – werden rund 250 chronisch Erkrankte betreut. Menschen, die aufgrund ihrer schweren Erkrankung häufig aus ihrer Lebensbahn geworfen wurden und vielfach in sozialer Isolation enden.  Vielfältige ambulant angebotene Kurse helfen den Tag strukturieren, um den Rückzug in die Einsamkeit zu vermeiden.

Bennewitz sah, wie seine drei neuen Mitarbeiter manches völlig anders anpackten. Und er erlebte viele Überraschungen. Eine 56jährige Frau etwa, mit traumatischer Gewalterfahrung vor vielen Jahren, die medizinisch als „austherapiert“ galt, legte plötzlich ihre passive Haltung ab. Sie habe viele Jahre nicht gelebt, sondern nur gelitten, sagt Ulrich Lück vom Landesverband Psychiatrieerfahrener.

Den 64jährigen gelernten Bauingenieur, der durch sein eigenes psychisches Leiden emotionale Grenzerfahrungen kennt, fand einen anderen Zugang. „Ich habe alles in Bewegung gesetzt, um dieser Frau zu helfen“, erinnert er sich. Sie fand neuen Lebensmut, erkannte verschüttete Potentiale und lernte wieder neu am Leben teilzunehmen.

Und die Dame lobt Lück in den höchsten Tönen. „Was er tut, geschieht aus Überzeugung und mit Einfühlungsvermögen“, erinnerte sie sich  jüngst als Rednerin auf einer Tagung Psychiatrieerfahrener.  Und: „Sein Einsatz ist nicht routiniert“.

Die Idee, dass Betroffene akut Erkrankten helfen, ist nicht neu. Schon 2005 förderte die EU mit Mitteln des Leonardo da Vinci-Bildungsprogrammes erste Kurse. Vorreiter waren die Bundesländer Hamburg und Bremen.

In Bremerhaven ist Angelika Lacroix,  Pflegedienstleiterin im Klinikum Reinkenheide des Lobes voll. Deutschlandweit ist Reinkenheide die erste Klinik, die derzeit vier krankheitserfahrene Genesungsbegleiter mit vollem Gehalt eingestellt hat. Mit großem Erfolg.  „Ich schätze sie sehr“, betont die Fachfrau.  Sie seien Kollegen – „keine Exoten“.

Auf den psychiatrischen Stationen spürt sie eine neue Dynamik.  Genesungsbegleiter fungieren als Mittler zwischen Patient und Pflegepersonal. „Sie sind sehr nah am Geschehen“, sagt sie. Essen mit den Patienten, gestalten gemeinsam Kaffeenachmittage, begleiten sie etwa zum Arbeitsamt oder zum Friseur, machen Hausbesuche. Und lernen die Sorgen und Nöte der akut Erkrankten kennen. Häufig besser als jeder Pfleger, besser als jeder Arzt.
 
„Ein Kranker kriegt einen ganz anderen Zugang zu Kranken“, betont auch Heiko Müller vom Lebenshilfewerk in Weimar. Durch eigene Grenzerfahrungen geprägt, öffnen sie Türen, die anderen verschlossen bleiben.  Aus den Tiefen des eigenen Erlebens, meint Müller, gehe oft eine besondere Stärke hervor. Und sie helfen sich damit selbst. Gewinnen ein Selbstvertrauen, das durch die Krankheit verschüttet war.

Denn die langjährige chronische Erkrankung prägt.  Untergräbt das Selbstwertgefühl, treibt vielfach in die Isolation. Die gesellschaftliche Stigmatisierung seelischer Erkrankungen tut ein übriges, den Lebensmut in den Keller sinken zu lassen.

In Thüringen laufen die Fäden bei Ines Lohrengel zusammen, die bereits den Ex-in-Kurs in Bremen absolviert hat.  Selbst seit langen Jahren erkrankt, organisiert  sie momentan Informationsveranstaltungen. In Kürze wird ein Trägerverein gegründet. Ab Ende des Jahres soll der einjährige Ausbildungskurs  in Erfurt beginnen.

Interessenten gibt es genug. Der Weg aus der Stigmatisierung hin zu beruflicher und gesellschaftlicher Anerkennung scheint reizvoll. Es handele sich „Experten aus Erfahrung“ heißt das in der Sprache jener, die das Projekt vorantreiben wollen. Menschen, die Pflegepersonal und Medizinern  „auf Augenhöhe“ begegnen  – freilich ein in der Psychiatrie sehr ungewöhnlicher Ansatz.

In Thüringer psychiatrischen Kliniken steht man der Idee von Genesungsbegleitern durchaus aufgeschlossen gegenüber. „Nach meiner Ansicht können Psychiatrie-Erfahrene als Gesundheitsbegleiter für psychisch Kranke hilfreich sein“,  betont  Annekathrin Faour von Katholischen Krankenhaus in Erfurt.

Auch der Chefarzt der Psychiatrie am Sophien- und Hufeland-Klinikum in Weimar, Richard Serfling, zeigt sich durchaus aufgeschlossen:  „Ex-In muss in den neuen Bundesländern durch Elan und Entschlossenheit aufgebaut werden – aber ehrenamtlich“, sagt der Mediziner, der im Landesfachbeirat für Psychiatrie das Thüringer Gesundheitsministerium berät. Gelder aus öffentlichen Töpfen seien nicht zu erwarten.

Im Klinikum der Universität  Jena seien Genesungsbegleiter durchaus willkommen, sagt der Leiter der Klinik, Heinrich Sauer. „Wir sind froh über alle Menschen, die sich um Erkrankte kümmern“. Professionelle Genesungsbegleitung könne er sich durchaus vorstellen, wolle aber die Eignung der Bewerber zunächst „kritisch überprüfen“.

Die Erfahrung einer psychischen Erkrankung bedeute nicht nur Leid und Verzweiflung, sagt Jörg Utschakowski aus Bremen. Sie trage auch zu einer besonderen Sensibilität bei, die zu neuer Erkenntnis führen kann. Utschakowski muss es wissen. Er ist einer der Initiatoren des Projektes in Deutschland und bildet seit 2005 bundesweit psychisch Erkrankte zu Genesungsbegleitern aus.


DANIELA EGETEMAYER