Stilproben

 

 
 

 

Wenn anderswo abendliche Stille einkehrt, wird es im Zentralaufnahmelager Eisenberg häufig ganz besonders regsam.  Denn neu ankommende Flüchtlinge klingeln vorzugsweise abends oder nachts am vergitterten Eisentor:  da haben sie zumeist schon eine Reise quer durch Deutschland hinter sich, ausgestattet mit Zug- und Busfahrkarte, und einer vagen Ahnung vom Zielort.  Eisenberg, das 11 000-Einwohner-Städtchen im Osten Thüringens ist zuständig für Flüchtlinge etwa aus Syrien, der Russischen Föderation, Serbien, Mazedonien und Afghanistan.
Wer derzeit aus den Krisenherden der Welt nach Deutschland gespült wird, erlebt überquellende Aufnahmelager und Beschäftigte an den Grenzen ihrer Belastbarkeit. Niemand weiß, wenn die Dunkelheit hereinbricht, wie viele Flüchtlinge in der kommenden Nacht wieder vor der Tür stehen werden. Sind es fünf oder zehn – oder vielleicht dreißig, wie jüngst in Eisenberg geschehen.  
Was dann folgt, ist ein Balanceakt zwischen Routine und Improvisation: Kleiderinspektion, eventuell die Ausgabe wärmerer Bekleidung, von Hygieneartikeln und Bettzeug. Und dann? Im schlimmsten Falle müssen die Ankommenden mit einem Matratzenlager auf dem Boden eines Containers vorlieb nehmen. In einem 18 Quadratmeter großen Gehäuse aus Metall, in dem normalerweise Deutschkurse abgehalten werden. In drei Nächten wurde dieser Container aber schon umfunktioniert zur Schlafstätte für sechs Zuflucht Suchende.
Wo sollte man sie auch unterbringen, wenn alle Unterbringungsmöglichkeiten sowieso schon voll ausgeschöpft sind? Wenn selbst das 40-Betten-Zimmer voll belegt ist, der letzte Notnagel des Aufnahmelagers. Jenes Zimmer mit zwanzig Doppelstockbetten, in dem die großen Fenster mit Laken und Decken verhängt sind, um die Bewohner wenigstens von neugierigen Blicken von außen abzuschirmen.
Das Aufnahmelager hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Ehedem 1870 als Wurstfabrik erbaut, betreuten später Nonnen dort alte Menschen, diente es in den Kriegen als Lazarett, später als Unterkunft für NVA und Volkspolizei und dann als Auffanglager für Westflüchtlinge.
Und nun Flüchtlinge aus aller Welt. Menschen, in deren Gesicht sich das Leid tief eingegraben hat, deren Augen stumpf sind. Aber auch fröhliche junge Männer und Frauen, froh, dem Grauen und Entsetzen ihrer Heimat entkommen zu sein. Menschen wie der 23jährige Mahmoud, dessen Familie dem Bürgerkrieg in Syrien entronnen und in alle Welt verstreut ist, und der nun aufmerksam und bedächtig dem Deutschunterricht lauscht.
Überhaupt: der Deutschunterricht. Eine Erfolgsgeschichte, ein Lichtblick im grauen Alltag der Asylbewerber. Mit Begeisterung und konzentriert folgen sie den Ausführungen ihrer Lehrerin, der 31jährigen Raua Al-Mudhaffae. Ihr gelingt es, sagt Burkhard Zamboni, der Leiter der Aufnahmestelle, auch kritische Situationen zu entzerren. Die in Rostock geborene Lehrerin mit irakischen Wurzeln spricht fünf Sprachen.
In den Stunden, in denen sie deutsche Vokabeln büffeln, vergessen ihre Schüler die Trostlosigkeit der Umgebung. Wo seit Februar auf dem Gelände zusätzlich noch vierzig Container stehen. In den Größeren hausen auf 36 Quadratmetern bis zu acht Menschen. In Zimmern mit metallenen Spinden, Doppelstockbetten, stapelbaren Stühlen und je einem Tisch. Eine Behausung, die so öde ist, dass das kleine rote Rutschauto des treuherzig blickenden Flüchtlingskindes wie aus einer anderen Welt wirkt.